Seelenpflege

Conrad hat keinen guten Start in seinen Tag. Er verstört Menschen und sich selbst. Trotzdem ist heute ein guter Tag. Für Conrad einmal im Monat.


Conrad steckte seinen Penis dorthin zurück, von wo er ihn zuvor herausgeholt hatte. Er konnte nicht sagen, ob er wirklich erleichtert war. Er kannte das noch vage aus seinem früheren Leben: Ich gehe mich mal kurz erleichtern. Praktisch stimmte das. Und theoretisch auch. Doch Conrad fühlte sich nicht erleichtert. Er wusste nicht einmal, wie er sich fühlte.

Als plötzlich ein lauter Gong an sein Ohr schwoll, hielt sich Conrad am Zaun fest, an dem seine feuchte Pissspur noch zu sehen war. Er schaute sie an, schloss dann die Augen und zählte mit: drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht. Dann schwoll nichts mehr, Conrad öffnete seine Augen wieder und machte gedanklich einen Haken. Acht Uhr also. Das passte zur hellen Umgebung, dem geschäftigen Zombietreiben um ihn herum, dem Geruch nach frischem Brot aus der nahegelegenen Bäckerei, der über den gesamten Platz schwebte.

Conrad allerdings schwebte nicht. Er versuchte noch immer, sich zu orientieren. Jetzt, da er sich erleichtert hatte, wurde ihm langsam bewusst, wo er war, dass er gerade in aller Öffentlichkeit an den Zaun gepinkelt hatte. In unmittelbarer Nähe der Bushaltestelle. Er dachte nicht unbedingt: Wie hat es nur dazu kommen können? Diese Zeit war längst vorbei. Ab und zu kam das vor. Öffentliche Toiletten sucht man nicht mehr, wenn man als Obdachloser schon oft von ihnen vertrieben wurde. Wer bereits ein paar Mal unter den Augen der Öffentlichkeit, am Morgen, im Berufsverkehr, sein sogenanntes Geschäft verrichtet hatte, für den gab es keine Hemmschwelle mehr. Jedenfalls, was die persönliche Hygiene betraf.

Dennoch sah Conrad an diesem Morgen etwas besser aus als an den meisten Tagen. Denn er hatte noch etwas vor. Kurz nach zehn Uhr würde er sein monatliches Treffen haben. Jedenfalls nannte er das so. Treffen klingt so, als würde er sich einmal im Monat mit jemandem auf Augenhöhe verabreden. Ein gleichwertiger Mensch, der sich Zeit für ihn nahm, der einen Termin mit ihm vereinbarte, um ihn nach einem Monat endlich wieder sehen zu können. Wie einen Freund. Oder wenigstens einen Geschäftspartner.

Jedenfalls hatte Conrad gestern Abend in der Bahnhofsmission noch duschen und sich die Zähne putzen können. Wie immer lagen dort ein paar aussortierte, aber frisch gewaschene Kleidungsstücke, von denen Conrad ein weißes Hemd und eine viel zu schicke Anzughose gut passten. Bezahlen konnte er nur das Hemd. Doch Astrid hatte ihn zuerst dazu ermuntert, die Hose anzuprobieren, ihm dann freudestrahlend gesagt, wie gut sie ihm stehen würde und ihm schließlich befohlen, sie anzubehalten.

Conrad konnte sich denken, dass Astrid die Hose für ihn gekauft hatte. Nur deshalb hatte er gestern Abend ein Bier zu viel getrunken. Wegen seines schlechten Gewissens. Und war nun etwas neben der Spur. Immerhin war er so klar im Kopf, dass er die Menschen an der Bushaltestelle bemerkte, die sich dazu zwangen, ihn zu ignorieren. Schicke Kleidung und pisst am frühen Morgen in aller Öffentlichkeit an einen Zaun. Ein weiterer Tag, den Conrad mit schlechtem Gewissen begann.

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